12/03/2010 15:52:51
Hallo,
wir haben gestern im Geburtsvorbereitungskurs diese schöne Entspannungsgeschichte gehört. Ich fand sie so schön, dass ich sie Euch nicht vorenthalten möchte.

Der kleine Wassermann
Es war einmal ein kleiner Wassermann, der lebte glücklich und zufrieden in seinem Wasserparadies. Angenehm warm war das Wasser. Nie zu warm oder zu kalt. Leicht und ohne die geringste Anstrengung schwamm der Kleine darin herum. Er musste nirgends hinaufsteigen und nie konnte er irgendwo herunterfallen. Das Wasser streichelte seine rosige Haut am ganzen Körper und wo das Wasser endete war eine weiche moosige Wand, an die er seinen Rücken stützen konnte. Wo oben und unten war, wusste der kleine Wassermann nicht. Wenn wir sagen „über uns ist der blaue Himmel“, so dachte er „um mich herum blüht der Himmel so rot und rundherum glänzt das Wasser in allen Farben, bunt, bunt, bunt.“ Der kleine Wassermann wusste auch nichts von Zeit oder von Tag und Nacht, denn er musste weder abends ins Bett noch morgens frühstücken. Wenn er müde war, machte er einfach die Augen zu und schlief ein Weilchen in seinem Wasserbett, aus dem er ja nicht herausfallen konnte, und das zugleich sein Spielplatz war. Hunger und Durst kannte er nicht, denn sein Körperchen füllte sich mit Nahrung ganz von allein. Manchmal allerdings bewegte er die Lippen und lutschte an seinem kleinen Daumen. Dann ahnte er, dass es irgendwo in der Welt so etwas wie Geschmack geben musste. Große Ohren hatte der kleine Wassermann und er hörte das Wasser glucksen und rauschen. Und er hörte das sanft Klopfen einer immerwährenden Trommel. Und manchmal hörte er noch mehr. „Schlaf mein süßes Kind. Draußen weht der Wind. Drinnen ist es warm und weich. Schlaf in deinem kleinen Reich. Träum von Sonne, Mond und Licht. Hörst mich schon, doch redest nicht. Muß noch manche Zeit vergehen. Wart nur, bald kannst du mich sehen. Schlafe sanft bis morgen, schlafe süß bis morgen.“
Immer, wenn er diesen Gesang gehört hatte, träumte der kleine Wassermann besonders schöne Träume. Die Welt war ein freundlicher Ort. Ja, natürlich, träumen konnte er auch. Nicht wie wir träumen, von Gegenständen und Worten, nein, er träumte von Musik und Farben, Kommen und Gehen, Schwimmen und Ruhen, Hell sein und Dunkler werden, Leise sein und Lauter werden, von Wärme und Kühle. Und dann hörte er wieder eine Stimme. Eine, die etwas anderes tat als Singen. „Ich wünsche mir, dich bald zu sehen, mein Kind. Ich möchte die Wege glatt und eben machen, für deine Füße. Für deine kleinen Füßchen mache ich auch Schuhe. Ja, feste Schuhe werde ich machen und einen Mantel, lang, bunt und warm. Du und ich, wir werden weit zu wandern haben.“
Und allmählich lernte der kleine Wassermann diese beiden Stimmen kennen und ahnte ihre Bedeutung.
Anfangs sah der kleine Wassermann wie ein kleiner Wassermann aus. Er hatte einen großen Kopf und Froschaugen. Er hatte einen kleinen krummen Rücken, der in einem Schwanz endete. Er hatte kleine Hände und Füße mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern und Zehen. Das erstaunliche aber war, dass er niemals gleich blieb. Er sah keinen Tag wie den andern aus. Er wuchs und wuchs und veränderte sich, und sein Wasserparadies wurde immer enger. Immer öfter steckte er seinen kleinen Daumen in den Mund und lauschte nach draußen. Wenn er die beiden Stimmen hörte, hüpfte er vor Freude und wollte sich ihnen verständlich machen. Auch er wollte singen und reden. Aber eine eigene Stimme hatte der kleine Wassermann nicht. Zu irgendeiner Zeit, als er schon lange in seinem kleinen Paradies gelebt hatte und seine Neugier immer größer wurde, mehr, als die roten Himmelsblumen zu sehen, mehr, als nur dumpfe Melodien zu hören, mehr, als nur seinen Daumen zu schmecken, da träumte er, dass jemand zu ihm sagte: „Wenn du willst, kannst du jetzt nach Draußen!“ „Werde ich denn eine Stimme haben?“, fragte der kleine Wassermann. „Ja“, sagte der Traum, „aber du wirst auch Schmerzen haben.“ „Was ist das, Schmerzen?“, fragte der kleine Wassermann. „Das ist schwer zu beschreiben“, sagte der Traum. „Man hat angst!“ „Was ist das, Angst?“, fragte der kleine Wassermann wieder. „Das ist schwer zu beschreiben“, sagte der Traum. „Die Welt ist nämlich nicht immer ein freundlicher Ort.“ „Warum soll ich dann raus wollen?“, fragte der kleine Wassermann. „Du wirst deine eigene Stimme haben und du bist dann nicht mehr allein.“ „Gibt es denn noch jemanden außer mir?“, fragte da der kleine Wassermann aufs Höchste erstaunt. „Da draußen ist die Welt voller Menschen“, sagte der Traum und die Neugier des kleinen Wassermanns wuchs und wuchs. „Wie soll ich denn hier raus kommen?“, fragte er nach einer Weile und der Traum antwortete: „Wenn du wirklich willst, dann drängle dich einfach durch. Alle werden dir helfen und dich schieben.“
Es dauerte noch eine Weile, bis der kleine Wassermann sich entschlossen hatte, die Welt außerhalb des Wassers kennenlernen zu wollen. Aber dann fing er plötzlich an zu drängeln und zu drücken und zugleich fühlte er, dass er von allen Seiten gedrückt und geschoben wurde. Es wurde immer enger und unangenehmer. „Das wird der Schmerz sein“, dachte der kleine Wassermann und nie gekanntes Gefühl überkam ihn – die Angst. „Ich will hier raus! Ich will hier raus“, dachte der kleine Wassermann. „Ich will meine eigene Stimme haben“ und auf einmal: „Bääähhh!“ war sie da, die eigene Stimme. Der eigene Atem. Aber noch viel mehr war da. Grelles Licht, laute Geräusche, eisige Kälte. Bleierne Schwere legte sich auf seinen kleinen Körper. Rauhe Tücher kratzten seine zarte, nur an warmes Wasser gewöhnte Haut. Einen Moment lang dachte der kleine Wassermann, er müsse sterben. Es gab nichts, aber auch gar nichts was er kannte und was angenehm gewesen wäre. Er litt große Schmerzen und weinte bitterlich. Aber da, auf einmal, wurde etwas weiches, warmes gelegt und er hörte wieder etwas bekanntes: „Sieh nur, was für ein niedlicher Junge er geworden ist! Mein "Peterle"! Da bist du ja endlich!“